Wir sind immer noch wie eine große Familie.

Die heute in Berlin lebende Journalistin und Bestsellerautorin Susanne Matthiessen hat in den 60er und 70er Jahren auf der Insel Sylt eine aufregende Kindheit und Jugend erlebt. Als Tochter eines erfolgreichen Unternehmerpaars häufig alleingelassen, wurden Schulfreunde und Nachbarskinder ihr zum Familienersatz. Die enge Gemeinschaft der „Inselkinder“ soll lebenslang halten. Und die Insel für immer ihre Heimat bleiben.

Portraitfoto: Hans Scherhaufer
alle anderen Fotos: privat


Sie sind in den 60er und 70er Jahren auf der Insel Sylt aufgewachsen, die damals den Ruf hatte, die „Insel der Schönen und Reichen“ zu sein. Bis heute gilt sie als Deutschlands exklusivster Ferienort mit der mutmaßlich größten Dichte an Luxusautos und den höchsten Immobilienpreisen der Republik. Was macht die Insel für Sie persönlich aus?

Ich würde sagen, das ganze Ambiente, die Natur und dieses spezielle Inselflair mit seinen besonderen Lebensbedingungen: den harten Wintermonaten, in denen man den Gezeiten so unmittelbar ausgeliefert ist, und der Sommersaison, in der man von Feriengästen und Tagestouristen förmlich überflutet wird… Mit diesen Gegensätzen umzugehen, ist schon sehr anspruchsvoll und auch verwirrend, insbesondere als Kind.


Wirklich erwachsen werden und so leben, wie ich es wollte, konnte ich erst, als ich die Insel verlassen hatte.


Die kleine Susanne mit Vater und Oma am Sylter Strand – Die ganze Famile auf der Fähre von List nach Havneby: Susanne Matthiessen (hinten links), Schwester Stephanie, Mutter, Vater und „Quasi-Bruder“ Lars Fuchs


Sie haben die Insel nach dem Abitur verlassen, um in München ein Studium und parallel dazu eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule zu absolvieren. War es schwer, dieser so besonderen Heimat den Rücken zu kehren?

Im Gegenteil, zum damaligen Zeitpunkt war ich sogar sehr froh darüber. Denn auch wenn man das vielleicht nicht vermutet: Die soziale Kontrolle ist auf Sylt sehr ausgeprägt. Es ist praktisch unmöglich, irgendetwas im Geheimen zu tun, man läuft sich ständig über den Weg, es wird viel geredet, alles wird weitergetragen… das ist natürlich, wenn man heranwächst, ein echtes Problem. Wirklich erwachsen werden und so leben, wie ich es wollte, konnte ich erst, als ich die Insel verlassen hatte. Inzwischen lebe ich seit über 30 Jahren in Berlin, einer Stadt, die mir sehr liegt.

Welche Bedeutung hat Ihre Heimatinsel heute für Sie?

Sie ist sehr, sehr wichtig für mich. Ich muss sogar sagen: Je älter ich werde, desto mehr orientiere ich mich wieder in Richtung Heimat. Und die Corona Pandemie trägt noch dazu bei, dass man das Gefühl hat, man muss nach Hause. Das geht übrigens nicht nur mir so, das stelle ich auch in meinem Umfeld fest. 

Wonach genau haben Sie Sehnsucht, wenn es Sie gen Heimat zieht?

Ich glaube, nach einer Situation des dorthin Gehörens, nach der Zugehörigkeit zu der dortigen Gemeinschaft. Man möchte das, was einem von klein auf vertraut ist, um sich haben. Ich denke, man fühlt sich in seiner Heimat auch sicherer als in einem Umfeld, das man eben nicht von Kindesbeinen an kennt. 

Die Geschichte Ihrer Kindheit und Jugend und damit auch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Sylter haben Sie in Ihrem Buch „Ozelot und Friesennerz“ beschrieben. Sie haben das Buch den „Inselkindern“ gewidmet, der Gemeinschaft der Kinder, mit denen Sie aufgewachsen sind. Welche Funktion hatten diese Inselkinder früher für Sie?

Nun, sie waren halt die Nachbarskinder und Schulfreunde, mit denen man ganz selbstverständlich aufgewachsen ist. Man kennt sich vom sprichwörtlichen Sandkasten an, was bedeutet, dass es keine Barrieren gibt; es ist ein gewisses Grundvertrauen da, wenn man sich von klein auf kennt.


Die anderen Beziehungen dagegen, die von früher, die bleiben mir erhalten, bis ich ins Grab falle. 


Und was bedeuten sie Ihnen heute?

Dieses selbstverständliche Vertrauen ist immer noch da. Selbst wenn ich jemanden, den ich seit 40 Jahren nicht gesehen habe, wiedertreffe, ist es sofort wie früher, obwohl man oft nicht einmal gemeinsame Interessen teilt. Wenn das doch einmal der Fall ist, dann ist das schön. Doch generell hat man es mit völlig unterschiedlichen Charakteren und Lebensentwürfen zu tun. Man nimmt sich gegenseitig so, wie man ist, was einen irgendwie toleranter macht. Trotz aller Unterschiedlichkeit bleibt man durch die gemeinsame Geschichte auf ewig verbunden. Natürlich habe ich auch im Erwachsenenleben viele und sehr gute Freundschaften geschlossen. Doch meistens sucht man sich dann Menschen, die vielleicht politisch, vom Bildungsgrad, vom Einkommen oder vom Lebensstil her eine ähnliche Ausrichtung haben. Mitunter habe ich auch das Gefühl, dass diese Erwachsenen-Freundschaften einfach enden könnten, ohne zwangsläufig eine Lücke zu hinterlassen. Die anderen Beziehungen dagegen, die von früher, die bleiben mir erhalten, bis ich ins Grab falle. 


Die Clique der Inselkinder damals und heute


Ihre Kindheit war aber nicht nur durch diese außergewöhnliche Insel und ihre Bewohner geprägt, sondern auch dadurch, dass Ihre Eltern ein exklusives Pelzgeschäft geführt haben, wo in den 60ern und 70ern alles, was Rang und Namen hatte, seinen standesgemäßen Pelz kaufte. Hinter den schillernden Geschichten aus jener Zeit, die Sie in Ihrem Buch so unterhaltsam schildern, liegt aber eigentlich noch eine andere, eher traurige Geschichte, nämlich die Geschichte einer einsamen Kindheit…

Ja, das kann man so sagen. Wir hatten tatsächlich eine einsame Kindheit. Es war zwar eine aufregende, abenteuerliche und auch sehr reiche Kindheit inmitten der Natur, direkt am Meer mit seinem Sandstrand; das ist schon etwas Besonderes. Aber wir waren auch sehr alleingelassen. Allerdings muss man die Art, wie unsere Eltern mit uns umgegangen sind, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenserfahrung betrachten: Sie hatten den Krieg mit Hunger und anderen Entbehrungen überstanden. Die meisten konnten nicht die Ausbildung machen, die sie gern gemacht hätten, und mussten schon in sehr jungen Jahren Verantwortung übernehmen. Daher wollten sie ihren Kindern vor allem das bieten, was sie selbst nicht hatten. 


So etwas wie einen moralischen Kompass hatten wir nicht.


Ihre Eltern wollten es „zu etwas bringen“…

…und das ist ihnen auch gelungen, sie waren ja sehr erfolgreich. Daher hatten wir natürlich immer genug zu essen, eine gute Schulausbildung und ein sicheres Zuhause; aber da sie immer im Geschäft und für uns praktisch nicht präsent waren, hatten wir im Grunde genommen keinerlei Betreuung oder Vorbilder, die uns im Alltag vorlebten, wie die Dinge sein sollten. So etwas wie einen moralischen Kompass hatten wir daher nicht. Gleichzeitig wurde von uns erwartet, dass wir uns möglichst unauffällig verhalten und nicht stören, damit die Geschäfte reibungslos laufen konnten. Dadurch sind wir halt so nebenbei aufgewachsen und mussten sehen, wie wir klarkommen. Wenn man so heranwächst, fühlt man sich natürlich oft einsam.


Die Westerländer Fußgängerzone in den 70ern – und Pelz-Matthiessen mittendrin

Wir hatten ein Lebensgefühl wie in einer riesigen Wohngemeinschaft.


Hat Ihnen die Gemeinschaft der Inselkinder, die Sie in Ihrem Buch auch als Schicksalsgemeinschaft bezeichnen, über diese Einsamkeit hinweggeholfen?

Ja, das haben sie definitiv. Wir haben uns unser Leben gegenseitig bunt gemacht. Das war etwas sehr Schönes. Darüber hinaus gab es auch andere, zugewandtere Eltern oder Erwachsene, die auch mal für die eigenen Eltern eingesprungen sind und bei denen man sich abholen konnte, was man von seinen eigenen Eltern nicht bekommen hat. Dadurch hatte man ein Lebensgefühl wie in einer riesigen Wohngemeinschaft.

Haben Sie sich, als Sie heranwuchsen und sich der Defizite Ihrer Kindheit bewusster wurden, mit den anderen Inselkindern darüber ausgetauscht?

Nein, das haben wir nicht. Und selbst heute ist das schwierig. Aber ich habe manchmal den Eindruck, dass dadurch, dass ich dieses Buch geschrieben und mich so lange mit dieser ganzen Thematik auseinandergesetzt habe, bei einigen meiner Freunde etwas angestoßen wurde. Manche haben mir nach der Lektüre auch gesagt, dass ich die Worte für etwas gefunden hätte, das sie selbst nicht hätten ausdrücken können. Einigen ist auch erst durch das Buch bewusst geworden, dass es in ihrer Kindheit Defizite gab.

Hat diese Erkenntnis etwas ausgelöst oder verändert?

Da kann ich nur für mich sprechen. Für mich war das Buch ein kathartisches Projekt. Nicht zuletzt war es aber auch ein Gesprächsangebot an meine Eltern. Ich hatte natürlich auch vorher schon versucht, mit ihnen über die Geschehnisse in meiner Kindheit zu sprechen, aber mit diesem Anliegen bin ich nicht zu ihnen durchgedrungen. Es ist daher nie, auch durch das Buch nicht, zu einer kritischen gemeinsamen Aufarbeitung gekommen. Das war einfach nicht möglich. Bei meinen Freunden ist es ähnlich. 


Sie haben auch sehr viel gefeiert damals und sich in dieser Gemeinschaft ausgelebt.


In Ihrem Buch nennen Sie Ihre Eltern und die Eltern der anderen Inselkinder, die mehr oder weniger zeitgleich ihre Geschäfte gegründet haben, die „Goldene Generation“. Was, würden Sie sagen, ist das Erbe dieser „Goldenen Generation“ an die Inselkinder?

Tja, was ist das Erbe? Materialistisch betrachtet, ist es natürlich viel Geld; aber davon abgesehen fällt mir ehrlich gesagt nichts ein, was die Generation unserer Eltern an Erhaltens- oder Schätzenswertem an uns weitergegeben hätte…

…weil es sich um rein materielle Güter handelt…

Ja. Die meisten haben es zu erheblichem Vermögen gebracht, sie waren ja allesamt sehr erfolgreiche Unternehmer… bei dem Gedanken daran fällt mir nun aber doch etwas ein, das sie uns mitgegeben haben. Etwas, das ich ganz großartig finde und was einem heute, wie ich glaube, nicht mehr in dieser Form begegnet, nämlich der enge Zusammenhalt dieser Goldenen Generation untereinander. Sie alle waren ja, als sie ihre Geschäfte in den 60ern gründeten, mittellos. Also haben sie sich untergehakt und einander geholfen. Aus der Not geboren, mussten sie zusammenhalten – und das haben sie getan. Sie haben auch sehr viel gefeiert damals und sich in dieser Gemeinschaft ausgelebt. Und wir waren die Kinder, die dabei waren und das alles miterlebt haben. Das war schon eine sehr positive Erfahrung, weil sie sehr von großer Lebensfreude geprägt war, von Ausgelassenheit, Optimismus und auch Zukunftsorientiertheit. Ihre Freundschaften hielten lebenslang. Das alles hatte durchaus Vorbildcharakter und die Erinnerung daran begeistert mich bis heute. Ich bin übrigens auch bis heute mit den Angehörigen dieser Goldenen Generation, die noch leben, befreundet. Wir sind immer noch wie eine große Familie.


Ein erfolgreiches Leben geht ja auch über wirtschaftlichen Wohlstand hinaus.


Glauben Sie, dass Ihnen die Sozialisation in dieser großen Inselfamilie ein besonderes Rüstzeug für Ihr Leben gegeben hat?

Da bin ich mir sogar sicher. Aber man muss natürlich auch hinterfragen, wie man ein glückliches und ein erfolgreiches Leben definiert und welches Rüstzeug man dafür braucht. Wenn man es so definiert, dass es darum geht, materiell erfolgreich zu sein, dann hatten wir dafür bestimmt gute Voraussetzungen, denn wir alle haben gelernt, wie sehr man sich quälen muss, um nach oben zu kommen. Viele von uns haben dann auch tatsächlich große Karrieren gemacht. Auch bei mir war das so. Allerdings habe auch ich zunächst den beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg in den Mittelpunkt gestellt und dafür so geackert, wie ich das bei meinen Eltern erlebt habe. Aber ein erfolgreiches Leben geht ja auch über wirtschaftlichen Wohlstand hinaus. Und wenn Sie mich fragen, ob wir ein erfülltes Leben geführt, ob wir die richtigen Prioritäten gesetzt haben, dann muss ich einräumen, dass wir – und da kann ich sicher auch für die anderen Inselkinder sprechen – durchaus Defizite hatten. Ich hoffe für jede/n, dass er oder sie das irgendwann erkannt hat und ausgleichen konnte. Bei mir selbst war das, das muss ich ehrlich sagen, erst recht spät der Fall. 

Haben Sie diesen Ausgleich bewusst herbeigeführt oder war es eine Entwicklung?

Ich habe bewusst gegengesteuert… aber zuvor braucht man ja einen Moment der Erkenntnis. Wenn diese Erkenntnis ausbleibt, jagt man halt einfach immer weiter und das Leben rast an einem vorbei. Manche Menschen sind damit wahrscheinlich auch glücklich. Wenn man diesen Moment der Erkenntnis aber hat und plötzlich merkt, dass es da eine ganze Menge gibt, was einem in seinem Leben fehlt, dann braucht man natürlich auch noch die Kraft und die Entschlossenheit, etwas Grundlegendes zu ändern.  

Gibt es etwas, das die Inselkinder-Generation wiederum ihren eigenen, mittlerweile erwachsenen Kindern weitergeben kann?

Diese neue Generation geht ihren eigenen Weg und interpretiert die Insel für sich sicherlich wieder ganz anders als wir damals. Ich glaube auch, dass es diese Inselkinder-Gemeinschaft in Zukunft nicht mehr in dieser Qualität, wie wir sie erlebt haben, geben wird. Es gibt ja auch nicht mehr das Sylter Leben in der Form, wie wir es kennengelernt haben, allein schon aufgrund der Tatsache, dass viele der jüngeren Generation ihre Häuser verkauft und aufs Festland gezogen sind, um dort eine neue Form der Gemeinschaft zu finden. Ich glaube, Sylt wird in Zukunft genutzt werden als der wunderbare Ort, der die Insel immer noch ist, wo man sich mit der Natur verbinden kann und sich sehr gern aufhält.


Unseren engen Zusammenhalt geben wir niemals preis.


Weil so viele so gern ihre Ferien auf Sylt verbringen, mussten Sie nicht nur Ihre Eltern, sondern auch Ihre Heimat stets mit ganz vielen Menschen teilen. Gibt es auf Ihrer Heimatinsel etwas, das Sie nicht teilen mussten, das Sie ganz für sich haben?

Ja, das gibt es: Es ist eben diese unverbrüchliche Gemeinschaft, die ich geschildert habe. Ich glaube, wir haben es wirklich geschafft, auf dieser Insel und für diese Insel miteinander und füreinander da zu sein – und das ist schon etwas sehr Singuläres und Exklusives. Unsere Gemeinschaft teilen wir mit niemandem. Von außen in diesen inner circle vorzudringen, ist bis heute nicht möglich. Natürlich kommt es vor, dass Leute, die gut mit Syltern befreundet sind, das Gefühl haben, dass sie dazugehören…aber das ist nicht so. Denn unseren engen Zusammenhalt, dieses verschworene Gemeinschaftsgefühl, das geben wir niemals preis.

Susanne Matthiessen wurde 1963 auf Sylt geboren. Ihre Eltern führten auf der nordfriesischen Insel ein berühmtes Pelzgeschäft, in dem Prominente, Künstler, Adelige und sonstige Reiche der Republik ein und aus gingen. An der Deutschen Journalistenschule und der Ludwig-Maximilians-Universität in München zur Journalistin ausgebildet, lebt Susanne Matthiessen heute in Berlin und entwickelt Programmideen für Radio, Fernsehen und Internet. Über ihre Kindheit schrieb sie den Bestseller „Ozelot und Friesennerz“, der von Doris Dörrie verfilmt wird. Die Fortsetzung, in der Susanne Matthiessen beschreibt, wie es in den 80ern weiterging, erschien am 10. März 2022 unter dem Titel „Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen“.