Peter Sarazin fühlt sich seiner Heimatstadt im Ruhrgebiet, die ihm mühelos Geborgenheit gibt und stetig neue Facetten zeigt, zeitlebens zutiefst verbunden. Gleichzeitig zog es ihn – maximal interessiert an anderen Kulturen, Lebensweisen und Landschaften – immer schon mit Macht hinaus in die Welt. Um seinen Wunsch nach Vertrautheit mit seiner Neugier auf die Fremde in Einklang zu bringen, wählte er einen Beruf, der dies möglich macht.
Alle Fotos: Peter Sarazin
Du wurdest vor 64 Jahren in Bochum geboren und hast seither nie an einem anderen Ort gelebt. War für Dich immer klar, dass Bochum Deine Heimat ist und bleibt?
Eigentlich hatte ich immer Berlin auf dem Zettel. Dass ich letztendlich doch hiergeblieben bin, war wohl meinem Beruf als Purser bei der Lufthansa geschuldet: Wenn man einen räumlich eher orientierungslosen Job mit wenigen festen sozialen Bezügen hat, dann ist das Zuhause, oder sagen wir ruhig: die Heimat, sehr wichtig.
Ließ der Standort Bochum sich denn mit Deinen Einsätzen bei der Lufthansa vereinbaren?
Nicht so leicht, denn ich war zehn Jahre lang in München stationiert und musste zum Dienstantritt jedes Mal dorthin fliegen. Das war natürlich unbequem, kostenintensiv und zugegebenermaßen auch nicht klimafreundlich. Aber dafür bin ich seit zwölf Jahren Veganer und habe kein Auto, damit gleiche ich diese Klimasünde hoffentlich wieder aus…(lacht)
An Deinem Einsatzort München auch zu leben, kam für Dich nie in Betracht?
Nie. Ich wollte nicht nach München und auch nicht nach Frankfurt, was ebenfalls naheliegend gewesen wäre.
An meiner alten Schule vorbeizuradeln, gibt mir ein eigentümliches Gefühl von Sicherheit.
Warum nicht?
Das ist rational schwer zu begründen, es geht eher um ein Gefühl. Wenn ich beispielsweise hier in Bochum an meiner alten Schule vorbeiradle, gibt mir das ein eigentümliches Gefühl von Sicherheit.
Fühlst Du Dich in der Fremde unsicher?
Absolut nicht, im Gegenteil! Ich wollte ja immer raus und die Welt sehen – aber gleichzeitig auch in Bochum bleiben. Ein besonderes Faible hatte ich immer für Kanada und Neuseeland, aber ich hätte mich nie getraut, tatsächlich auszuwandern. Mein Beruf hat es mir dann ermöglicht, meine Neugier auf die Welt mit meiner Heimatverbundenheit zu vereinbaren. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Beruf ergriffen habe, obwohl ich ursprünglich Schauspieler werden wollte.
Hättest Du Deiner Heimat auch ohne diesen international ausgerichteten Beruf die Treue gehalten?
Definitiv nicht. Bei aller Liebe: Ohne meine Arbeit bei der Lufthansa wäre ich sicher weggezogen.
Mit Currywurst und Sauerbraten habe ich als Veganer natürlich nullkommanichts am Hut.
Ist die Verbundenheit mit Deiner Heimat ein universelles Gefühl oder speist sie sich aus bestimmten Charakteristika oder Schauplätzen der Region?
Es gibt einen Ort, der für mich Heimat schlechthin ist: das Bochumer Schauspielhaus. Daran hänge ich mit jeder Faser, dort fühle ich mich wie im Schoß meiner Mutter! Sicher spielen auch die vertrauten Geräusche und Gerüche in meiner Straße, meinem Viertel, meiner Stadt eine Rolle. Kulinarisch fühle ich mich hier weniger zu Hause, denn mit Currywurst und Sauerbraten habe ich als Veganer natürlich nullkommanichts am Hut. Aber diese speziellen Eigenheiten des Ruhrgebiets, die mag ich sehr.
Das Bochumer Schauspielhaus: die Herzensheimat
Was meinst Du damit?
Das ganze Thema Bergbau zum Beispiel. Die letzte Bochumer Zeche wurde zwar schon im März 1973, also vor fast 50 Jahren, stillgelegt, aber so eine Art Bergbau-Stolz und das Bewusstsein für diese Bergarbeiter-Ehre, das gibt es hier immer noch, auch bei mir. Ich bin sogar stolzer Besitzer eines alten Zechenhauses. Und als ich kürzlich mal Besuch von Freunden aus Mexiko hatte, habe ich ihnen total begeistert und mit meinem Laienwissen erklärt, wie das damals auf der Zeche war. Dabei hatte niemand aus meiner Familie je mit Bergbau zu tun. Aber diese Zähigkeit, die Verlässlichkeit, der Pragmatismus, den man brauchte, um diese harte Arbeit verrichten zu können, das alles prägt die Menschen hier bis heute – und die daraus resultierende, tradierte Haltung ist etwas, das mir sehr nah ist.
Das alte Zechenhaus: ein Heim mit Historie
In den Menschen bildet sich also ab, was Heimat für Dich ausmacht?
Ja, und in der Art, wie sie miteinander umgehen und kommunizieren.
Was genau zeichnet das Miteinander im Ruhrgebiet aus?
Vor allem die Tatsache, dass hier ohne große Umstände und in der Regel auf Augenhöhe kommuniziert wird. Ob in der Schlange im Supermarkt oder im Wartezimmer beim Zahnarzt, die Gespräche sind meist klassenübergreifend. Status spielt keine große Rolle. Man wird hier auch nicht so schnell gefragt, was man beruflich macht.
Die Stadt hat kein Jota Großstadtflair, das muss man leider sagen.
War diese Vertrautheit mit Deiner Heimatstadt und ihren Menschen ausschließlich bereichernd für Dich oder hast Du sie auch mal als Enge wahrgenommen?
Natürlich habe ich meine Umgebung zeitweise auch als einengend empfunden. Diese mangelnde Weltgewandtheit, der starre lokaler Bezug…. Obwohl Bochum mit knapp 370.000 Einwohnern zu den 20 größten Städten Deutschlands gehört, hat die Stadt kein Jota Großstadtflair, das muss man leider sagen (lacht). Aber glücklicherweise ist man hier nicht auf einen einzigen Ort angewiesen: Man hat die gesamte Metropolregion Ruhr zur Verfügung, mit insgesamt elf Bühnen für Schauspiel, Oper und Ballett, mit unzähligen Galerien und Museen und den Schauplätzen der Industriekultur, wie zum Beispiel dem UNESCO-Welterbe Zeche Zollverein oder dem Duisburger Binnenhafen, der übrigens der größte Binnenhafen Europas ist. Das finde ich wirklich großartig. Und wo auch immer ich hingehe, überall treffe ich meine Szene. Das ist etwas sehr Schönes.
Dieser Fluss ist für mich Heimat. Das ist mir erst kürzlich so richtig bewusst geworden.
Die Kultur, das urbane Leben ist das eine. Welche Rolle spielt die Natur?
Mittlerweile eine große. Es ist schon erstaunlich: Früher war Heimat für mich eine rein urbane geprägte Erfahrung. Heute genieße ich beispielsweise auch den Waldgeruch in der Nähe der Stadt sehr. Vor allem aber liebe ich die Ruhr. Ich weiß eigentlich bis heute nicht, ob meine Geburtsstadt auch meine seelische Heimat ist. Aber manchmal habe ich das Gefühl, so eine Art „Ruf der Heimat“ wahrzunehmen. Und meistens ist es die Ruhr, die nach mir ruft. Dieser Fluss ist für mich Heimat. Das ist mir erst kürzlich so richtig bewusst geworden.
Wie kam es dazu?
Mein Mann, der aus Schwerte, das ebenfalls an der Ruhr liegt, kommt, machte mich darauf aufmerksam, dass wir beide von der Ruhr stammen. Er sagte, dass dieser Fluss ein unvergängliches Band ist, das uns beide miteinander verbindet. Das fand ich sehr schön. Die Ruhr ist übrigens ein wunderschöner Fluss. Sie hat ganz stille Arme, da fühlt man sich fast wie am Amazonas.
Die Ruhr: Symbol der Verbundenheit
In der Pandemie dürfte Dein fein austarierter Lebensentwurf, mit dem Du Deine Heimattreue mit Deiner Lust auf ferne Länder in Einklang bringst, aus der Balance geraten sein. Wie bist Du damit umgegangen?
Das ist mir tatsächlich nicht ganz leicht gefallen. Früher war ich einmal im Monat in Tokyo, mit Beginn der Pandemie war ich plötzlich pausenlos in Bochum. Meinen Job, die Menschen, den Blick aus dem Fenster des Cockpits habe ich unendlich vermisst. Die Pandemie hatte mich buchstäblich in den Schoß meiner Heimat zurückgeworfen. Dort musste ich mich nun neu orientieren, meinen Alltag neu ausrichten. Inzwischen bin ich ja, ebenfalls infolge der Pandemie, im sogenannten Ruhestand. Daran muss ich mich noch gewöhnen. Sicher werde ich auch in Zukunft viel reisen. Aber wie auch immer ich mein Leben nach dem Job gestalten werde, eines ist sicher: Bochum wird bleiben.
Der gebürtige Bochumer Peter Sarazin wollte von klein auf die ganze Welt kennenlernen – und gleichzeitig seine liebenswerte Heimatstadt an der Ruhr niemals verlassen. Daher ergriff er einen Beruf, der ihm die Freiheit gab, in seiner Heimat zu leben und gleichzeitig in der Welt zu Hause zu sein: Er ging zur Lufthansa, wurde zunächst Flugbegleiter, dann Kabinenchef. Seine Leidenschaft für das Theater, für Kunst, Kultur, Literatur und Fotografie hat er in seiner Freizeit ausgelebt. Infolge der Pandemie ist er seit Mitte vorletzten Jahres im Ruhestand.